WingTsun Familienstil, Hierarchie, Anreden & Stammbaum

Zusammenfassung

WingTsun ist ein chinesischer Familienstil. Das Verhältnis der Schüler, Lehrer und Meister untereinander ist freundlich, familiär und geprägt durch gegenseitige Rücksichtnahme und Achtung, sowie Respekt vor dem Wissen und Können der wegbereitenden Lehrer.  Dies drückt sich vor allem dadurch aus, dass die Lehrer zeigen und erklären, wie es Eltern ihren Kindern, oder ältere Geschwister ihren jüngeren Geschwistern zeigen würden.

Die Hierarchie im WingTsun-Familiensystem erzeugt bzw. gewährleistet eine sinnvolle Struktur, in der alle ihren passenden Platz finden. So steht der Lehrer in der Verantwortung über die ihm unterstellten Schüler, dass ihnen eine solide Ausbildung und persönliche Entwicklung ermöglicht wird. Im Gegenzug erkennen die Schüler ihre Position an und respektieren die Stellung ihrer Ausbilder, Lehrer und Meister. Somit entsteht ein beonders „familiäres“ und notwendiges Vertrauensverhältnis im Unterricht. Dies drückt sich unter anderem in den persönlichen Anreden, wie „SiFu“ für den (Vater-) Lehrer oder „SiHing“ für den „älteren Bruder“ ( = fortgeschrittenerer Mitschülter) aus.

Der Stammbaum ist eine wichtige Quelle der Besinnung auf die Wurzeln des Stils und dessen traditioneller Legitimität. Dabei spielt auch die Anerkennung der Verdienste aller derer, die zur Entwicklung des Stils bis heute beigetragen haben eine wichtige Rolle. Über den Stammbaum lässt sich auch die Hierarchie untereinander einfach ableiten.

Für alle die, die es gerne detaillierter mögen … die folgenden Absätze!

Die Skizzen können durch Anklicken vergrößert werden.

Hierarchie

Die traditionelle Familien-Hierarchie, wie sie im WingTsun gepflegt wird, gibt die Struktur vor, die allen Beteiligten ihren berechtigten Platz zuweist und damit für die Entwicklung und das Lernen optimale Bedingungen schafft:

  • die Beginner tragen wenig Verantwortung, dürfen Fehler machen und können sich entwickeln und lernen. Dabei hören sie auf die Fortgeschritteneren, die ihnen den Weg zeigen.
  • die Fortgeschritteneren haben Vorbildfunktion gegenüber ihren jüngeren Trainings-„Geschwistern“ und kümmern sich verantwortungsvoll darum, dass diese sich optimal entfalten können. Aber auch die Fortgeschritteneren sind noch Lernende und verstehen sich ebenso als solche.
  • die Lehrer und Meister leiten die Geschicke der Schule und bieten damit den Schülern die Grundlage für eine vertauensvolle Umgebung. Dafür erfahren sie von den weniger weit Fortgeschrittenen den traditionellen Respekt vor ihrer Lehrerrolle.

Stammbaum

Wer autentisches KungFu betreibt, ist bemüht, sich auf seinen stileigenen Stammbaum zu berufen. Auf der einen Seite dient dies der Ehrerbietung vor den Meistern und Lehrern, die einem den Weg geebnet haben.

Auf der anderen Seite dient der Stammbaum auch der Anerkennung, Legitimation und der Referenz bzw. Seriösität die Herkunft des Stils betreffend. So ist in der anhängigen Abbildung der vom weltweit anerkannten WingTsun-Großmeister Yip Man überlieferte Stammbaum mit der Weiterführung in die heutige Generation dargestellt.

WingTsun-Stammbaum nach Überlieferung von Yip Man

Die persönlichen traditionellen Anreden

Die Anreden spielen im WingTsun eine entscheidende Bedeutung, denn sie spiegeln das Verständnis für Tradition und Respekt wieder. Die Ansprachen “Sifu” und “Sihing” (gleichbedeutend mit “väterlicher Lehrer” bzw. “größerer Bruder” im Sinne der Kampfkunst) sowie die gegenseitige Verbeugung von Schüler und Lehrer verdeutlichen dies. Im Folgenden werden die WingTsun-familiären Zugehörigkeiten, so wie die passenden Anreden detaillierter erläutert:

Sifu

Der Sifu ist der KungFu-Lehrer bzw. das Oberhaupt einer traditionellen WingTsun-Schule. Er Sifu bedeutet wörtlich übersetzt soviel wie „Vater“ im Sinne von „KungFu-Vater“ bzw. „Vater-Lehrer“.

Der Sigung ist der Sifu vom Sifu, und somit der „KungFu-Großvater“.
Der Sijo ist der Sifu vom Sigung und somit der „KungFu-Ur-Großvater“.

Todai & Tosuen

Der Todai ist das Gegenstück zum Sifu, nämlich der Schüler des Sifu oder auch „KungFu-Sohn“. Der Tosuen ist der „KungFu-Enkel“.

Schreibweisen Sifu, Si-Fu und SiFu

Die Schreibweise mit Namenszusatz (wie z.B. „Sifu Kernspecht“, „Sifu Kaus“, „Sifu Max Mustername“) wird im Allgemeinen für Sifu-Titel-Träger verwendet, ähnlich wie es im Westen bei einem Doktor-Titel der Fall ist. Diese Schreibweise drückt keinerlei persönliches Verhältnis, jedoch eine allgemeine Respektsbekundung dem Titelträger gegenüber aus.

Die Schreibweise „Si-Fu“ oder „SiFu“ (also ohne Bindestrich, aber mit Großbuchstaben innerhalb des Titels) wird verwendet, wenn es sich um den eigenen Sifu handelt. Letztere Schreibweise wurde von Sifu Kernspecht eingeführt.

WingTsun-Hierarchie: SiFu - SiGung - SiJo - ToDai - ToSuen
WingTsun-Hierarchie: SiHing - SiJe - SiDai - SiMui

Die Ansprachen der Schüler untereinander

Auch unterhalb der Schüler spielt die einhaltung der Hierarchie und die gegenseitige Respektbekundung eine wichtige Rolle. Dabei wird insbesondere unterschieden, wer „älter“ im Sinner der Hierarchie (also nicht lediglich vom Lebensalter, sondern vielmehr von der zeitlichen Zugehörigkeit) ist.

Der männliche Mitschüler, der länger dabei ist:  Sihing = „älterer Bruder“.

Die weibliche Mitschülerin, die länger dabei ist: Sije = „ältere Schwester“.

Der männliche Mitschüler, der kürzer dabei ist: Sidai = „jüngerer Bruder“

Die weibliche Mitschülerin, die kürzer dabei ist: Simui = „jüngere Schwester“

Der (“dienst-“) älteste Mitschüler der Schule wird Dai-Sihing genannt.

Horizontale und vertikale Verwandschaftsverhältnisse

In der horizontalen Ebene (sprich: innerhalb einer Generation) gibt es kein traditionell verwendetes Adäquat zu jüngere(r) / ältere(r) Cousin(e), sondern man spricht sich traditionell mit den geschwisterlichen Anreden an. Es wird dabei nicht unterschieden, ob man den selben Sifu hat, oder ob beider Sifus in einer Generation stehen.

Anders jedoch verhält es sich, mit den Lehrern, die in der Generation des eigenen Sifus stehen. Da gibt es präzise Zuordnungen.

Der „jüngere Bruder des Vaters“ ist der Sisuk. Das ist also der Mitschüler des eigenen Sifu, der später als der eigene Sifu mit WingTsun angefangen hat.

Der „ältere Bruder des Vaters“ ist der Sipak, also der Mitschüler aus der Generation des eigenen Sifus, der früher als der eigene Sifu dazu kam.

Das Ganze eine Generation weiter umspannend: der SiSukGung ist der „jüngere Bruder des SiGung (Großonkel)“ und der SiPakGung der „ältere Bruder des SiGung (Großonkel)“.

Die „Frau des SiFu“, die nicht notwendigerweise der Kampfkunst zugehörig sein muss, wird mit SiMo angesprochen. Die „Frau des SiGung“ ist die SiTai.

Wenngleich im Unterrichtsalltag nicht oft verwendet, sei an dieser Stelle noch der SiJoGung nämlich der „Sifu des SiJo (Urur-Großvater“) erwähnt.

Erweiterter Stammbaum mit traditionellen Anreden

Ist das noch zeitgemäß?

Wer nicht nur traditionelle Regeln lernen und befolgen, sondern diese auch verstehen möchte, d.h. den konstruktiven Sinn der traditionellen Hierarchie erkennen möchte, bitte folgenden Beitrag aufrufen: [ Tradition – Ballast oder Gewinn? ]

EWTO-Akademie Koblenz | WingTsun-Kampfkunst & Selbstverteidigung | Sifu Jan-Holger Nahler