Die traditionelle Anordnung von Lehrern und Schülern
Worum es geht:
Die Art der Ausführung des WingTsun-Unterrichts, also wie sich Lernende und Lehrende im Untericht verhalten (sollten), enthält eine Vielzahl teils sehr subtiler Symboliken, die dem Wesen des Stils, der Stilentstehung und Sinngebung entsprechen.
Die Hierarchie ist im WingTsun-Familiensystem von immenser Bedeutung. Geht es doch nicht nur darum, wer wem mehr zu sagen hat, sondern drückt diese vor allem die tief verwurzelte Bedeutung von Vertrauen und Vertraulichkeit aus. Traditionell gesehen ist demjenigen eher zu vertrauen, den man länger kennt bzw. der sich länger bewährt hat. Konnte der Meister diesen doch in unterschiedlichsten Situationen ob seines Verhaltens und seiner Reaktionen – auch oder gerade in Extremfällen – beobachten und charakterlich einschätzen.
Auch die stark zu vermuten aus Kriegsgeschehnissen resultierende Entstehungsnotwendigkeit des WingTsun-Stils drückt sich symbolisch in vielen Bereichen dieser Kampfkunst aus. Gerade in diesem Kontext zeigt sich das damals ebenso wichtige notwendige Maß an Vorsicht, Umsicht bzw. Misstrauen gegenüber Fremden oder noch nicht richtig einschätzbaren Schülern. Ging es doch schlicht nicht um weniger, als das eigene Leben vor tödlich-meuchlerischen Überaschungsangriffen zu sichern.
In den nachfolgenden Abschnitten wird versucht, eine Verständnisbrücke von den im Unterricht gelebten und befolgten Regeln zu den diese begründenden Symboliken zu bauen – insbesondere, was die Symbolik des sich gegenseitigen Positionierens bzw. Aufstellens anbetrifft.
Hierarchie in Positionen Lernender & Lehrender
Der Lehrer steht den Schülern mit direktem Blickkontakt gegenüber, so dass er im Zweifelsfall spontane Übergrifflichkeiten im Ansatz erkennen und frühzeitig unterbinden (bekämpfen) kann. Dabei dreht der Lehrer, dem die Vertrauenswürdigkeit seiner vielleicht teils sehr frischen Schüler noch nicht gewahr ist, nicht die Seite oder gar den Rücken zu.
Bei einer überschaubaren Anzahl von teilnehmenden Schülern (bis ca. 8-10 Personen) wird nur eine Schülerreihe gebildet, wobei die Anfänger rechts, die etwas Fortgeschritteneren mittig und die fortgeschrittensten Schüler – jeweils aus Blickrichtung der Schüler – links stehen.
Ist es der Übersicht halber bzw. vom vorhandenen Platz her sinnvoll, mehrere Reihen zu bilden, so stehen die Anfänger in der ersten Reihe und die Fortgeschrittensten ganz hinten. Dies hat dreierlei Sinnstiftungen: Erstens ist es dem Lehrer wichtig, die neuen und noch nicht vollends vertrauten Schüler besonders gut im Auge zu behalten und zweitens bekommen die fortgeschrittenen Schüler aufgrund ihrer Erfahrung auch aus größerer Distanz schon mehr mit, als es die neuen Lernenden vermögen. Und drittens sollen die Anfänger in ihrer Konzentration nicht von den Übungen der Fortgeschrittenen abgelenkt werden.
Vom Kriegsgefährten zum Assistenz-Ausbilder
Von der Tatsache ausgehend, dass die meisten Kämpfer das Schwert auf der linken Seite trugen, um es mit der rechten Hand zu ziehen, resultieren die nachfolgenden Überlegungen: Stand ein Kämpfer alleine oder frontal von Angesicht zu Angesicht zu seinem (potentiellen) Gegner, brauchte er sich keine großen Gedanken über Links und Rechts machen.
War der Kämpfer jedoch von jemanden seitlich umgeben, so war stets Sorge zu tragen, dass das eigene Schwert nicht von fremder Hand gezogen oder blockiert werden konnte. So ließ der Kämpfer seinen Begleiter rechts neben ihm stehen.
Und so wird heute noch im WingTsun-Unterricht aufgestellt: Hat der Lehrer einen Assistenten, so steht der Lehrer links und der Untergebene rechts von ihm, was dem Untergebenen symbolisch das Ergreifen des Meisters Schwert erschwert.
Die Hierarchie des Ver- bzw. Misstrauens
(Zur leichteren Veranschaulichung wird hier in den Schaubildern der Ranghöchste jeweils mit Nr. 1 markiert und je niedriger der Rang der Nachfolgenden, desto höher der Nummerierungswert. In dem Fall hat der Rangniedrigste den höchsten Nummernwert.)
Sind neben dem Meister 2 oder mehr Ausbilder vorhanden, so erhält der Meister den Platz in der Mitte. Wenn es sich inkl. Meister um eine gerade Anzahl von Ausbildern handelt, dann steht der Meister aus Blickrichtung der Ausbilder betrachtet links neben der Mitte. Aber wie begründet sich diese Symbolik?
Hat der Meister 2 Assistenten, so steht der „dienstältere“ Ausbilder links neben dem Meister, da ihm mehr Vertrauen (i.S. Annäherung an das Schwert des Meisters) als dem „dienstjüngeren“ Ausbilder zugestanden wird (siehe Schaubild „3. Situation“).
Hat der Meister 3 Assistenten, so bilden die ersten beiden Dienstältesten gemäß „3. Situation“ so etwas, wie den inneren Kreis. Stößt jetzt ein Dienstjüngerer hinzu, so hat er sich rechts neben diesem inneren Kreis zu positionieren (siehe Schaubild „4. Situation“). Dabei haben die beiden vertrauteren Assistenten Nr. 2 und Nr. 3 des inneren Kreises die Aufgabe, den Meister von weniger vertrauten Ausbildern (hier Nr. 4) abzuschirmen.
Betrachtet man nun den inneren Kreis wie eine einzelne oder gar die erste Position (des Meisters), dann verhält es sich mit den nachfolgenden Positionen analog: Folgen dem inneren Kreis zwei weitere Assistenten, so platziert sich der ranghöhere von beiden links vom inneren Kreis und der rangniedrigere von beiden rechts. Ab diesem Moment bilden die beiden den (einen) äußeren Kreis und die Methode der Anordnung lässt sich endlos weiterspinnen:
Sinnvolle oder sinnlose Handhabe in heutiger Zeit?
Selbstverständlich leben WingTsun-Lehrer in der heutigen Zeit und europäischen Gesellschaft nicht in ständiger Angst vor potentiell meuchelmordenden Schülern. Die Betonung liegt hier auf Symbolik im Sinne einer traditionellen Brauchtumspflege.
Auch wenn man sich vorstellt, dass auf großen EWTO-Seminarverantstaltungen mit mehreren hunderten von Teilnehmern mitunter auch viele Dutzende Meister bei der Begrüßung vorne mit Großmeister Kernspecht in Reihe stehen, dann kann man erahnen, wie sinnvoll eine exakte Anordnung sein mag: alleine das Auffinden der exakten Aufstellungsreihenfolge würde wahrscheinlich Stunden dauern. Und wenn dann noch jemand verspätet hinzustößt und alles wieder neu geordnet werden müsste, würde dies ganz sicher alle Rahmen des Zumutbaren sprengen. Aber grundsätzlich kann man sagen, dass die höchsten (Groß-) Meister dem Ranghöchsten recht nahe positioniert sind.
Dem Sinn auf der Spur
In kleinerem Kreise in der örtlichen Akademie / Schule halten wir die korrekte Anordnung aber immer noch für sinnvoll. Denn so können bereits die (dienst-) jüngsten Schüler am Vorbild der Ausbilder erkennen, dass es einen Wert darstellt, die eigene Position mit den dazugehörigen Verantwortungen bzw. Privilegien zu kennen und vorzuleben. Zu wissen, welche Erwartungen – definiert durch die traditionelle Hierarchie – an einen selbst gestellt werden, gibt Klarheit. Die priviligiertere Position „dienstälterer“ Mitschüler und Ausbilder anzuerkennen und zu respektieren, bildet oft den erste Schritt, auf die eigenen Fortschritte und die eigene traditionelle Position stolz sein zu können.
Gerade auf schulverbundsinternen Seminaren und Lehrgängen pflegen wir dieses Ritual recht gewissenhaft. In der koblenzer Akademie steht der unterrichtsleitende Ausbilder / Lehrer alleine vor der Gruppe und alle anderen Ausbilder stellen sich in die hinteren Reihen der Schüler. Damit erkennen sie an, dass sie selbst auch noch lebenslang in der Rolle der Schüler verbringen, solange sie nicht gerade selbst unterrichten. Auch damit erfüllen sie eine wichtige Vorbildfunktion. Denn der neue Schüler erkennt, dass man selbst nach Jahren des Lernens und des Ausbildens in gewissen Situationen und den eigenen Lehrern gegenüber stets wieder in die Rolle des (fortgeschritteneren) Schülers schlüpfen darf.
Der Nutzen kurz zusammengefasst:
Zusammenfassend stellt die Aufstellungsordnung ein geeignetes und symbolbehaftetes Ritual dar, mit dessen Hilfe jede einzelne einbezogene Person sich innerhalb der Hierarchie am richtigen Platz und in der richtigen Rolle identifizieren und orientieren kann.